Sozialer und politischer Wandel der Linken und Sozialen Bewegungen
Innerhalb der Linken vollzogen sich in den letzten Jahrzehnten erhebliche Wandlungsprozesse. Bereits in den 1960er-Jahren traten sowohl die sogenannte Neue Linke als auch die Neuen Sozialen Bewegungen auf den Plan, die nicht mehr allein Antworten auf Fragen nach materieller Gleichheit, sozialer Sicherheit und gerechten Arbeitsverhältnissen suchte, sondern die darüber hinaus zunehmend Themen der Ökologie, der Selbstverwirklichung, der Geschlechtergerechtigkeit und Formen der Diskriminierung in den Fokus rückten. Bereits damals wurde eine Debatte über den Status und die Rolle des Körpers in Gesellschaften, die enorm spießig waren und die Darstellungs- und Präsentationsweisen von Körpern einschränkten, geführt. Bis heute sind diese Themen nicht aus linken Diskussionen verschwunden, im Gegenteil. Sie strukturieren die Debatten, innerhalb der die Linke versucht, sich zu verständigen, werden jedoch zum Teil mit anderen Zielen und Absichten aufgegriffen. Das führt zu Konflikten, nicht nur allein zwischen Älteren und Jüngeren, sondern zwischen verschiedenen inhaltlichen Positionen – so auch bezüglich der Rolle des Körpers, die heute vor allem unter dem Kürzel OKF innerhalb linker Räume diskutiert wird (für: oberkörperfrei).
Das Thema OKF
Worum geht es dabei? Unter dem eigentümlich anmutenden Kürzel verbirgt sich die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung unserer Körper vergeschlechtlicht ist. Wie wir Körper wahrnehmen, hängt also davon ab, welchem Geschlecht sie zugeordnet werden. Dementsprechend ist es Frauen oftmals verboten, Brustwarzen öffentlich zu zeigen und in den Sozialen Medien werden sie zensiert. Die Ursache davon ist, dass der weibliche Körper sexualisiert wird und (durch jene Verbote) zugleich diszipliniert werden soll. Männlich wahrgenommene Körper sind von diesen Verboten hingegen ausgenommen, sie genießen daher ein Privileg. Allein deswegen ist es sinnvoll, sich über das Thema OKF zu verständigen.
Darüber hinaus ist es auch in subkulturellen Kreisen nicht unüblich, dass Männer ein mackriges Verhalten an den Tag legen, in dem sie versuchen, mit ihrem freien Oberkörper zu posen. Dazu zählen bspw. ein prolliges Flexen auf der Bühne oder ein raumeinnehmendes und aufdringliches Tanzen, was beides oftmals mit oberkörperfreiem Posieren einhergeht. Auch daher kann man OKF kritisch gegenüberstehen.
Gleichwohl, so eindeutig, wie es hier zunächst klingen mag, ist es natürlich nicht. Viele künstlerische Performances leben davon, den Körper als Teil der Inszenierung (bspw. von Verletzlichkeit, von Angst oder Marginalisierung oder zum Zwecke der Ironisierung von Körperidealen) zu nutzen und sich dabei oberkörperfrei zu zeigen. Verschiedene Formen des zeitgenössischen Tanzes, des Theaters oder der pop- und subkulturellen Musik wären ohne OKF nicht derart überzeugend und ergreifend. Und natürlich gibt es ganz unverfängliche Besuche des Badesees etc.
Der Umgang im AZ mit OKF
Wir als AZ Aachen sind uns dem bewusst und diskutieren das Thema OKF seit Längerem, ohne hier eine einheitliche Position zu vertreten, denn auch in unseren Kreisen entstehen bei verschiedenen Themen Konflikte – wir sind uns nicht immer einig, einige von uns orientieren sich eher an materialistischen, andere an identitätspolitischen Zielen und Perspektiven. Mit Blick auf OKF bedeutet dies, dass wir uns der verschiedenen Rollen von Körpern bewusst sind. Daher ist ein Verbot nur eine Position innerhalb des AZ, aber nicht die Einzige. Denn andere argumentieren, dass ein Verbot keine Lösung ist, weil es dem Facettenreichtum von Körperlichkeit nicht gerecht wird. Vielmehr muss es darum gehen, der ungerechten Sexualisierung und Disziplinierung von weiblichen Körpern sowie dem Rummackern entgegenzuwirken. Ein Freiraum würde bedeuten, dass alle sich so zeigen können, wie sie wollen, solange sie niemand anderen damit unterdrücken. Aufgrund der verschiedenen Positionen dazu gibt es kein Verbot von OKF bei uns. Wir haben uns jedoch darauf verständigt, für das Thema zu sensibilisieren, mit Gästen und Acts darüber zu sprechen und auf Verständnis und Rücksichtnahme zu hoffen. Das funktioniert mal mehr, mal weniger gut.
The Stitches-Show
Beim Auftritt der Band The Stitches am Freitag, den 4.8.23 lief vieles falsch – und daran waren unterschiedliche Gruppen beteiligt. Bereits im Vorlauf und während des Konzertes wurde mehrfach versucht, mit dem Sänger der Band ins Gespräch zu kommen und darum zu bitten, sich rücksichtsvoller und aware/bewusst im AZ zu verhalten und bspw. nicht das FLINTA*-WC einzig zum Stickern zu betreten. Es gibt AZ-Menschen und Gäste, die dieses WC bewusst nutzen und die sich unwohl durch solch ein Verhalten fühlen. Ebenfalls wurde während des Auftritts versucht, für spezifische Verhaltensweisen zu sensibilisieren. Das mag dann bereits der falsche Moment sein, jedoch ist es Ausdruck davon, dass wir bereits vorab nicht auf offene Ohren gestoßen sind. In Anbetracht der überfordernden Situation haben AZ-Menschen dann entschieden, bei der Zugabe der Band den Sound runterzudrehen, da der Sänger trotz mehrfacher Bitte, rücksichtsvoller zu agieren, OKF die Bühne betrat. Einer Band den Strom abzudrehen, ist selbst ein problematisches Vorgehen, das wissen wir und bestreiten wir nicht und das diskutieren wir intern. Wir sind bezüglich unseres Agierens an diesem Abend nicht alle einer Meinung, im Gegenteil. Ebenso ist uns klar, dass Gäste vielleicht nicht wissen, wieso es zu dieser für alle unangenehmen Situation kam, weil Gäste lediglich sehen, wie ein Sänger ein verschwitztes Shirt auszieht und AZ Menschen darauf mit einem Konzertabbruch reagieren. In dem Sinne ist der Unmut von Gästen ebenso nachvollziehbar wie der emanzipative Gedanke von weiblichen Personen, ihren Oberkörper ebenfalls zu entblößen. Völlig inakzeptabel ist hingegen die Aggression, die anderen Gästen und AZ Menschen anschließend in Diskussion und bei Gesprächsversuchen entgegenschlug. Dass Gäste wutentbrannt mit Flaschen in der Hand, die drohend gehalten werden, andere Menschen anbrüllen, tolerieren wir genauso wenig wie, dass Gäste Flaschen über andere Menschen hinweg gegen Wände schmeißen und AZ Menschen schubsen. Wir alle arbeiten sehr viele Stunden sehr intensiv ehrenamtlich im AZ, verbringen Monate, Jahre unseres Lebens in diesem Bunker, damit andere Spaß auf Veranstaltungen haben können, und erwarten selbst in Anbetracht hochkochender Emotionen den Versuch eines respektvollen Umgangs miteinander. Ebenso erwarten wir von Veranstalter*innen, sich in solchen Situationen deeskalierend zu verhalten, statt die Stimmung weiter anzuheizen.
Generelle Konflikte und Ausblick
Unser Eindruck ist, dass sich an dem Abend viele Emotionen kanalisiert haben, die sich seit Jahren bei ehemaligen Plenumsmenschen oder langjährigen Gästen gegenüber dem AZ angestaut haben. Seit Längerem schon ist offensichtlich, dass die hier eingangs beschrieben Wandlungsprozesse innerhalb der Linken nicht von allen Menschen gleich aufgenommen werden: einige befürworten es sehr, andere lehnen es strikt ab, dass das AZ sich gegenwärtig anders als zuvor mit Gender- und Diskriminierungsfragen auseinandersetzt, neben materialistischen, auch identitätspolitische Perspektiven existieren. Aus diesem Widerspruch zwischen verschiedenen Positionen führt kein Weg direkt heraus, schon gar nicht in Form von Pöbeleien, Aggressionen oder Handgreiflichkeiten. Das einzig Mögliche ist, darüber ins Gespräch zu kommen und auf Augenhöhe respektvoll zu diskutieren. Dazu ist das AZ immer bereit, denn auch wir müssen fortwährend intern diskutieren, wie wir verschiedene Dinge einschätzen und wie wir auf einen gemeinsamen Nenner kommen.
Autonomes Zentrum Aachen, Anfang Oktober 2023